POP
(Di |
NEUES AUS OER
MUSIKWELT
„Es geht um
Gerechtigkeit"
Am Vorabend hat Ani DiFranco ohne
Bandbegleitung ein akustisches Kon-
zert in einer Kirche gespielt. Jetzt sitzt
die
4 1
Jahre alte Ikone des feministi-
schen Folkrocks in ihrem Londoner Ho-
telzimmer - und nimmt kein Blatt vor
den Mund bezüglich ihrer kritischen
Haltung gegenüber dem Kapitalismus
STEREO:
A n i, h a st
Du
D einen F rieden m it
der R eligion u n d der In stitu tio n K irche g e -
m a ch t, oder w ie k a m es zu diesem K onzert?
Ani DiFranco:
Gut, die Organisation na-
mens Kirche ist natürlich nichts anderes als
die organisierte Form des Patriarchats und
die gesellschaftlich verankerteste Form der
Unterdrückung der Frau. Ich meine, Gott er-
schuf die Frau aus der Rippe des Mannes, das
sagt ja schon alles (lacht). Auf der anderen
Seite halte ich der Kirche zugute, dass sie viel
für die Gesellschaft tut, etwa Armenspei-
sungen anbietet und auf lokaler Ebene oft
von demokratisch und gerecht gesinnten
Menschen betrieben wird. Dazu kommt,
dass ich wegen des meist besonders tollen
Klangs wirklich gerne in Kirchen spiele.
STEREO:
D u b e sitzt sogar selbst ein e K ir-
che, oder?
DiFranco:
Das ist wahr. Ein guter Freund
von mir und ich, wir haben eine fast 150
Jahre alte Kirche im immer mehr verfal-
lenden Stadtzentrum von Buffalo/New
York, meinem Heimatort, gekauft, um sie
zu retten. Wir haben fast unser gesamtes
Geld in die Restaurierung gesteckt, und
jetzt ist die Kirche nicht nur ein Kultur-
zentrum und ein Veranstaltungsort, son-
dern auch der Sitz meines Plattenlabels
Righteuos Babe Records. Zu dumm eigent-
lich, dass ich, als endlich alles fertig war,
nach New Orleans gezogen bin.
STEREO:
W ie k a m das?
DiFranco:
Mein Mann Mike Napolitano,
der auch das neue Album koproduziert hat,
kommt aus New Orleans. Als vor fünf Jah-
ren unsere Tochter geboren wurde, haben
wir entschieden, uns dort niederzulassen.
Ich habe die Stadt sehr liebgewonnen. Ne-
ben der Energie und dem großartigen Re-
servoir an tollen Musikern genieße ich es,
dass die Menschen sehr echt sind. Es gibt
keinen Pomp und keine Wichtigtuerei.
STEREO:
D u hast das Stargehabe in der M u -
sikbranche im m e r verabscheut u n d gleich fü r
das erste A lb u m 1990 D eine eigene P la tten -
firm a g e g rü n d e t. Freust D u D ich heute, dass
D u D einer Z eit voraus warst, oder ärgerst D u
D ich über die verpassten G elegenheiten, M il-
lionen zu verdienen?
DiFranco:
Ja, ich hätte viel mehr Geld ma-
chen können, wenn ich mich an die Re-
geln gehalten hätte. Und nochmal ja, ich
bereue meinen eigenen Weg kein biss-
chen. Die Musikindustrie hatte in den frü-
hen bis mittleren 90er Jahren sehr viel für
junge Frauen mit Gitarren übrig, ich hät-
te sicher eine andere Form von Ruhm und
Erfolg erlangen können. Aber darum ging
es mir ja nie. Meine Musik hat nie die gro-
ßen Massen erreicht, sondern die Menschen,
die sich wirklich für meine bieder interes-
sieren. Dass es solche Menschen gibt, hat
mir und meinem Selbstvertrauen, das an-
fangs wenig ausgeprägt war, sehr geholfen.
STEREO:
D u w ü rd e st also n ich ts ä n d e rn
wollen?
DiFranco:
Doch. Ich habe am Anfang ein
paar wirklich gute, individuelle Songs ge-
schrieben, bloß: Sie wmrden nicht gut auf
Platte umgesetzt. Vielleicht hätte ich im
Nachhinein doch besser einen klugen Pro-
duzenten engangiert, anstatt alles selbst
machen zu wollen. Jetzt bin ich 41 und den-
ke, ich fange gerade erst an, gut klingende
Platten zu machen.
STEREO:
D u k ö n n te st d e in e a lte n L ieder
neu a u fn eh m en .
DiFranco:
Darüber denke ich tatsächlich
nach. Ich werde das bald versuchen.
STEREO:
D as T itelstü ck D eines n e u en A l-
b u m s „ W hich Side A re Y o u O n “ ist äußerst
einprägsam .
DiFranco:
Oh ja, das will ich auch hoffen
(lacht). Nicht, um endlich einen Hit im Ra-
dio zu landen. Sondern, um die Leute auf-
zurütteln. „Which Side Are You On“ ist ein
Wachmachsong.
STEREO:
D ie A rb e ite rk la sse -H y m n e e n t-
sta n d in d en 30er Jahren, u n te r a n d eren Pe-
te Seeger u n d W o o d y G u th rie haben sie in -
terpretiert. D u h a st den T e x t in die heutige
Z eit übertragen, u n d der alte F olk-Recke P e-
te S eeg ersp ielt m it sein en 92 Jahren d a r a u f
B anjo.
DiFranco:
Fantastisch, oder? Pete war im-
mer ein Idol, wir traten zum ersten Mal auf
seinem 90. Geburtstag im Madison Square
Garden zusammen auf. Jetzt ist er ein
Freund. Für mich ist Pete die Verkörperung
von Frieden und Liebe. Und er ist für mich
die direkte Verbindung in die Geschichte
der Folkmusik, der ich entstamme.
STEREO:
„ W hich Side A re You O n?“ ist ein
P rotestsong.
DiFranco:
Er ist sogar ein Kampfsong. Die
Kämpfe sind heute die gleichen wie damals.
Es geht um Gerechtigkeit, Fairness, gegen
Ausbeutung. Zum erstem Mal seit Langem
bin ich zuversichtlich, dass sich etwas tut. Die
kleinen Leute fühlen sich betrogen und ent-
täuscht. Aber sie stehen auf: In Nordafrika
und dem Mittleren Osten für mehr Demo-
kratie, in der reichen, westlichen Welt dafür,
dass sozialistische Ideen stärker akzeptiert
w'erden. Ich bewundere die „Occupy“-Be-
wegung, wünsche ihr das Beste und unter-
stütze sie nach Kräften. Demokratie und Ka-
pitalismus sind einfach keine natürlichen
Freunde. Kapitalismus unterstützt das „Ich“
und den
zerborstenen
Amerikanischen
Traum, nach dem ein jeder mit Fleiß zu
Wohlstand kommen kann. Das Kollektiv, die
gemeinschaftlichen Interessen gehen dabei
unter und kaputt.
Interview: Steffen Rüth
122 STEREO 3/2012
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FOTO; SHERVIN LAINEZ
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